Die alte Frau und das Koks

Oder: Warum wir eine 77-jährige mit einer Box voller Spritzen und weißem Pulver in ein Flugzeug gesteckt haben.

So cool muss man erst einmal bleiben. Immerhin untersucht der Bundespolizist gerade die Box mit dem weißen Pulver. Ich wäre wahrscheinlich längst schweißnass zusammengebrochen und würde in einem fensterlosen Hinterzimmer mit neugierigen Fragen konfrontiert, während mein Flug nach Wien ohne mich abhebt.

Aber so eine Kleinigkeit bringt unseren Kurier nicht aus der Ruhe. Seelenruhig erklärt sie dem Beamten, dass alles in Ordnung sei. Ganz so, als sei es völlig normal, dass jemand mit zwölf Spritzen und weißem Pulver ein Flugzeug besteigen will. Als wären 2001 nie passiert und die netten kleinen Briefchen mit verdächtigem Inhalt in den darauf folgenden Jahren nie verschickt worden.

 

Der Bundespolizist ist allerdings nicht überzeugt. "Was ist da drinnen?" fragt er etwas schärfer. "Wichtige Medikamente" erwidert sie ohne zu zögern. Diese Frau würde jeden mexikanischen Schmuggler vor Neid erblassen und dessen Kartellboss vor Stolz in Tränen ausbrechen lassen. Eine bessere Wahl hätten wir nicht treffen können, um unsere Ware von Deutschland nach Österreich zu bringen. 

 

Der Lange Weg zum Flugzeug
Der Lange Weg zum Flugzeug

Impfen oder nicht impfen? Das ist hier die Frage.

Aber zurück zum Anfang. Bei den Reisevorbereitungen sehen wir uns permanent auch mit gesundheitlichen Fragen konfrontiert. Welche Gegenden sollen wir meiden, da dort, wie etwa in Teilen Bosniens und Herzegowina Meningitis Fälle vorkommen? Wo können wir Trinkwasser gefahrlos konsumieren beziehungsweise wie bereiten wir es andernfalls angemessen auf? Und natürlich, wogegen können, dürfen, sollen oder müssen wir uns impfen? Bei letzterer Frage empfiehlt sich ein Besuch des Tropeninstituts in Wien.

 

Dieses versorgt uns mit einer umfangreichen Liste: Diphtherie/Tetanus/Keuchhusten/Polio, Hepatitis A+B, Masern/Mumps/Röteln, Japanische Encephalitis, Meningokokken/Meningitis, Tollwut und Typhus*. Mehr Spritzen bekommt man auch bei einer Ganzkörper-Akupunktur selten. Noch dazu werden die meisten von hiesigen Kassen nicht bezahlt (im Gegensatz zu Deutschland). Bei vier zu impfenden Personen führt das zu Gesamtkosten zwischen € 2.000,- und € 2.500,-, unter anderem da wir aufgrund unserer Route und Reiseart entschieden haben, den Empfehlungen des Tropeninstituts fast vollständig zu folgen. 

 

Seitdem heißt es also regelmäßig Arm frei machen. Nur die Impfung gegen Tollwut machte von Anfang an Probleme. Nicht lieferbar aufgrund eines Fehlers in der Kühlkette. Warten auf Godot ist hier aber keine Option. Immerhin verläuft Tollwut, wurde man von einem infizierten Tier gebissen und erhält nicht binnen 24h eine Impfung, in 100% der Fälle tödlich. Schlechte Quote, vor allem, wenn man sich in der Kasachischen Wüste wilden Hunden gegenübersieht und das nächste Krankenhaus mehrere Tagesreisen entfernt ist. 

 

Ganz Europa ist vom Tollwutimpfstoff befreit. Ganz Europa? Nein. Eine kleine Apotheke in Hessen leistet dem Lieferengpass erbarmungslosen Widerstand.

Nach zahlreichen Telefonaten finden wir eine kleine Apotheke in Hessen, die noch Impfstoff lagernd hat - gerade genug für uns vier. Also tüftelt Hessin Astrid mit Hessin & Nachbarin Hannah an einem Plan. Eine 77-jährige Verwandte Hannahs würde demnächst nach Wien fliegen und sollte den Impfstoff mitnehmen. Allerdings muss er nicht nur dauerhaft gekühlt werden, sondern wird auch als weißes Pulver transportiert. Interpretationen von Koks bis Anthrax sind also Tür und Tor geöffnet.

 

Spätestens hier beginnen also die richtigen Probleme, zumal das Paket auch noch Spritzen enthält. Nach intensiven Gesprächen, u.a. mit der deutschen Bundespolizei haben wir endlich grünes Licht. Der Transport ist angemeldet, die Beamten wissen Bescheid und unserer Tollwutimpfung steht nichts mehr im Weg.

 

Außer natürlich dem Bundespolizisten am Flughafen.

 

Dieser hat nämlich nichts gehört von einem vorangemeldeten Medikamententransport. Würde er dem Schild "Vorsicht. Medikamente. Nicht unter 8°C lagern" misstrauen und das Pulver untersuchen wollen, wäre alles umsonst gewesen. Und unser Kurier würde voraussichtlich ihren Flug verpassen. Zeit für Plan B: Hessisches Feingefühl, was grob als nicht enden wollender Wortschall übersetzt werden kann. Und wie jeder, der schon einmal einer hektisch dialektischen Sprachlawine ausgesetzt war, gibt auch der Beamte irgendwann auf und lässt die Dame passieren. 

 

Das Empfangskomitee

Wenig später trifft unsere Nachbarin Hannah am Flughafen ein - samt Partner und kleiner Tochter, um ihre Verwandte standesgemäß abzuholen. Es ist 13:10, die Anzeigetafeln melden Flug LH 1238  als gelandet. Bald müsste die nur mit Handgepäck reisende Dame nach draussen treten. Tut sie aber nicht. Auch eine halbe Stunde später ist sie nicht zu sehen. Weitere 30 Minuten später scheint der Flug nicht einmal mehr auf der Anzeigetafel auf.  Von Tante Escobar keine Spur. 

 

Langsam macht sich Nervosität breit. Hat der deutsche Bundespolizist seine Meinung geändert? Wurden seine österreichischen Kollegen informiert und haben die Dame aus dem Verkehr gezogen? Teilt sie nun doch mein hypothetisches Schicksal in besagtem fensterlosen Hinterzimmer? Doch die Polizei gibt keine Auskunft, ebenso verweigert Lufthansa Antwort auf die Frage, ob unser Kurier denn überhaupt im Flugzeug war. Datenschutz. Verständlich, aber deswegen nicht unbedingt hilfreich. 

 

Silent Airport

14.30. Anrufe in Wiener Krankenhäusern führen zu keinem Ergebnis. Und der Flughafen weigert sich standhaft, sie auszurufen. Man sei jetzt ein Silent-Airport. Spannend, denn bei Flughäfen denke ich nicht unbedingt zu allererst an "silent". Doch auch hier siegt die hessische Beharrlichkeit.

 

Nach zähen Verhandlungen wird Tante Escobar ausgerufen...

 

Und marschiert drei Sekunden darauf seelenruhig in den Ankunftsbereich des Flughafens. Völlig entspannt und mit der Kühlbox in Händen versteht sie die ganze Aufregung überhaupt nicht. Kein Wunder. Der Flieger war ja auch gerade erst vor 10 Minuten gelandet. Verzögert wegen eines Schneesturms in Deutschland war er ca. zur selben Zeit abgehoben, als er in Wien erstmals als gelandet angegeben wurde. Profis.

 

Egal. 

 

Oberarme frei. Es wird wieder gepikst.

  

*: Nicht alle Impfungen sind für Erwachsene und Kinder vorgeschrieben/empfohlen.

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